Henriette lächelt: Roman
Henriette bleibt am liebsten zu Hause. Sie bestellt ihre Lebensmittel online und beobachtet das wahre Leben durch das Fenster. Sie hat nämlich ein Problem und das ist ihr Übergewicht. Das virusbedingte Homeoffice kommt ihr ganz recht, doch dann bekommt sie einen neuen Kollegen an die Seite gestellt und Michael gefällt ihr sehr. Es ändert sich etwas in Henriettes Leben. Ganz zart und langsam blüht sie auf, wie die Margerite in ihrem Herzen.
Mich hat das Buch sehr berührt. Henriette war mir von Anfang an sympathisch und es hat mich schon ein wenig mitgenommen, ihr in ihren sehr vom Übergewicht bestimmten Alltag zuzusehen. Doch ganz langsam nimmt man eine Veränderung an ihr war und sie taucht immer mehr aus ihrer Blase in das wirkliche Leben auf. Je weiter man in die Geschichte vordringt, um so klarer wird, warum Henriette so ist wie sie ist. Das ist sehr rührend. Die Autorin versteht es wirklich wunderbar, diese Figur und ihr Schicksal in ganz zarten, unaufgeregten Tönen zu erzählen. Klare Leseempfehlung!
Mit ihren 190 Kilo bleibt Henriette am liebsten zu Hause, während das Leben vor ihrem Fenster stattfindet. Ihre Mutter, die in der Wohnung über ihr lebt, möchte das Leben ihrer fünfzigjährigen Tochter kontrollieren, sie lässt sie nicht in Ruhe, kommentiert jede Essensbestellung, jede Kleiderwahl, die Henriette trifft. Aber zum Glück ist da Martin: Ihr Arbeitskollege, den sie nur vom Zoom-Bildschirm kennt und der so schöne Augen hat. Sie verliebt sich in ihn, auch wenn sie sich das selbst nicht zugesteht. Als sie eines Tages ihre junge Nachbarin kennenlernt, beginnt Henriette sich und ihre Welt zu öffnen. Gelingt es ihr, sich von ihrer Mutter zu lösen und einen Schritt in die Zukunft zu wagen? (Verlagsbeschreibung)
Henriette hat ein Problem. Oder besser gesagt gleich zwei. Das eine ist ihr enormes Gewicht: 190 Kilo zeigt die Waage an, Tendenz steigend. Und das andere ist ihre Mutter, die über ihr wohnt, einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hat und sich jederzeit in ihr Leben einmischen kann und dies auch tut. Kilo um Kilo ist in den letzten Jahren hinzugekommen, und tatsächlich kann Henriette nur ans Essen denken - es ist, so sagt sie selbst, als habe sie zwei Mägen, und einer davon ist immer leer.
"Henriette denkt vor, während und nach dem Essen ununterbrochen ans Essen. Henriette schämt sich sehr, dass sie immer viel, viel viel mehr als die anderen essen möchte. Wo doch ein Blick genügt und man weiß, dass sie am besten erstmal ein paar Jahre gar nichts essen sollte."
Die 50jährige Henriette lebt alleine in ihrer Wohnung und verlässt diese so gut wie gar nicht mehr. Corona sei Dank, kann sie per Homeoffice arbeiten, der einzige Kontakt zur Arbeit besteht aus regelmäßigen Zoom-Meetings mit ihrem Kollegen Martin - dem mit den grünen Augen. Für diese Meetings richtet sie sich her, so gut es geht, aber ansonsten lässt sich Henriette gehen. Überall Essensreste, ungespültes Geschirr, ungewaschene Klamotten - und auch sich selbst pflegt Henriette nicht mehr. Es gibt kaum noch passende Kleidung, aber außer den Essenslieferanten und ihrer Mutter bekommt sie eh niemand zu Gesicht. Und letztere meckert sowieso in einer Tour - was soll es also?
"Die Mutter hat sich an Henriettes Fersen geheftet und redet wie üblich ohne Unterlass. Nicht einmal Richard Gere könnte diese Frau ertragen, und der ist Buddhist, denkt Henriette, während die Mutter vor sich hin klagt."
Kurze Kapitel und einfache Sätze folgen Henriettes stream of consciousness - Gedanken, Gefühle, Erinnerungen. Die Themen der Kapitel sprunghaft wie der Gedankenfluss der 50Jährigen. Man möchte Henriette schütteln, ihre Mutter hinauswerfen, ordentlich durchlüften und klar Schiff machen. Deutlich ist, dass Henriette nicht glücklich ist in ihrem Leben, dass sie irgendwie aufgegeben hat, ziellos von einem Fresskoma ins nächste taumelt. Dabei klagt sie nicht, sie schaut sich all die Fakten recht nüchtern an, kann sich aber zu nichts aufraffen, das dem Abgrund entgegenwirken würde, dem sie sich nähert.
Erst als Henriette den Mut findet, eine Nachbarin zu bitten, bei ihr zu putzen - denn sich bewegen geht kaum noch, geschweige denn sich zu bücken - driftet ihr Leben ganz langsam aber unaufhaltbar Veränderungen zu. Henriette trifft Entscheidungen, winzige zunächst, aber immerhin. Beginnt Anteil zu nehmen an ihrer Umwelt. Stellt sich dann ihren Erinnerungen und schließlich auch ihrer Mutter, deren Stimme längst schon die von Henriettes innerem Kritiker geworden ist. Und sie beginnt sich zu öffnen.
Zu Beginn hatte ich Mühe, Henriette näher zu kommen. Allerdings: hätte sie das überhaupt gewollt? Der Erzählstil hielt mich auf Distanz, mehr als oberflächliches Interesse für Henriettes eigenwilligen Lebensstil hatte ich anfangs nicht. Allerdings hoffte ich auf Hinweise, was das Essen für sie bedeutet, weshalb es solch einen Stellenwert in ihrem Leben einnimmt. Und ob es möglich sein würde, diesen Prozess zu durchbrechen, oder auch ob Henriette überhaupt etwas an ihrer Situation verändern will. Depression schlug mir entgegen, Verwahrlosung und - ja, auch Gestank.
Begegnungen sind es, die Henriette schließlich zulässt, und die Veränderungen bewirken. Behutsame, allmähliche, glaubhafte Veränderungen, die mich zusehends freuten. Und die auch mir letztlich eine Annäherung erlaubten. Das offene Ende empfand ich als passend, dabei positiv gestimmt, so dass ich Henriette letztlich gut loslassen konnte. Schön fand ich, dass der Buchtitel dem des letzten Kapitels iim Roman entspricht, und dass sich auch das Cover durch den Text erklärt.
Ein schmaler, unaufgeregter Roman, der das kleine große Drama eines Lebens aufzeigt, und der ganz allmählich den Menschen hinter all den angefutterten Schichten herausschält, die das Innere wie einen Panzer vor der Welt abschirmen. Letztlich ein hoffnungsvoller Roman, den ich gerne gelesen habe...
© Parden
Henriette gibt sich nicht auf
Was und wann ist bei Henriette schief gelaufen? Henriette ist nicht zu belächeln oder verspotten. Sie ist zu bedauern. Das Fett hat die Herrschaft über ihren Geist und Körper ergriffen. Sie muss ständig essen, um ihren unstillbaren Hunger zu stillen. Ihre Mutter, die sich ständig in ihr Leben einmischt, ist dabei das größte Problem. Mit den spitzen Nebenbemerkungen, ihrem ganzen ablehnenden Verhalten bestärkt sie ja Henriette mehr in ihrer Ess-Sucht. rst als die Mutter sich aus ihrem Leben für immer verschwindet, kann Henriette durchstarten. Diese Verwandlung fand ich fantastisch.
Der Stil des Buches ist einzigartig. In den ersten Kapiteln beginnt gefühlt jeder zweite Satz mit Henriette. Henriette denkt dies, Henriette denkt das, Henriette sagt dies, Henriette tut das. Und vor allem: Henriette lächelt. Auf all die fiesen oder gut gemeinten Worte der Mutter lächelt Henriette nur, stimmt ihr zu, wehrt sich nicht. Man hat den Eindruck, Henriette wird zur Kugel, an der alles abläuft, was die Mutter sagt oder tut. Henriettes gesamtes Leben spielt sich nur in ihrer Wohnung ab. Seit sie online arbeiten kann, geht sie nicht mehr aus dem Haus. Essen bestellt sie per Internet oder per Telefon. Freunde, die sie besuchen oder die sie besuchen will, hat sie keine mehr. Einzig mit ihrem Kollegen/Chef hat sie noch Kontakt. Erst als sie bewusst auf ihre Nachbarin eingeht und sie enstellt, bei ihr zu putzen, hat sie zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Kontakt zu Mitmenschen, direkt, nicht nur virtuell. und da beginnt zwar langsam, aber immerhin, die Verwandlung. Sie geht in der Wohnung auf und ab, etwas was sie früher nicht mehr tun konnte. Dann, als die Mutter sie plötzlich verlässt, traut sich Henriette aus ihrer Wohnung, auf die Straße, in die Läden zum Einkaufen. Je mehr Bewegung sie macht, umso besser geht es ihr. Das Ende des Buches gibt Aufschluss darüber, wann und wo und wie Henriettes Ess-Sucht begonnen hat. Es ist erschütternd und so alltäglich. Überall in der Nachbarschaft kann so etwas passieren, die Kinder sind schutzlos brutalen Angehörigen ausgeliefert.
Wenn wir also dicke Menschen sehen, bitte nicht belächeln. Es kann eine schlimme Kindheit dahinter stecken, oder eine Schilddrüsenerkrankung, oder eine andere Ursache. Dieses Buch ist ein Plädoyer, Verständnis für diese Menschen aufzubringen.